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Karl Kniep Wiesbaden 1975 (Neudruck 1993)
Mein erstes Erlebnis mit der Bewegung
Man kann jetzt ruhig darüber sprechen Nachdem vor kurzem der letzte Werwolf an Altersschwäche eingegangen ist. habe ich wohl keinen Ehrendolch ins Kreuz mehr zu befürchten. Jedenfalls habe ich das Nachfolgende fast so erlebt wie geschildert.
Man schrieb das Jahr 1937. und ich war immerhin schon 13 Jahre alt. Bei uns im Freistaat Danzig waren die Richtlinien der Partei bei weitem nicht so gut kolonisiert wie im Großdeutschen Reich. Sonst hätte ich mich wohl kaum diesem Cercle so lange vorenthalten können.
Auch meine Mutter drängte: "Aus dir wird niemals ein richtiger Junge. Alle Jungens sind in dem Verein, wo man auch hört, nur du nich. Und später kommst du nich mehr in die Ha-Jott oder Partei und kriegst keine Stelle."
Mit dem Verein war das Jungvolk gemeint. Nun lief mal wieder so eine Werbewoche, und an einem kühlen Herbstnachmittag war es einem meiner Klassenkameraden gelungen, mich zu einer der üblichen Vereinsversammlungen mitzuschleppen. Er natürlich in Braunhemd 33 mit Zubehör. ich dagegen in Zivil.
Am Versammlungsort, einem größeren Platz, waren bereits etliche Dutzend Jungens anwesend. Schon von weitem wurden wir beide mit Gejohle und Geschrei empfangen. Ich freute mich des Interesses, das offensichtlich mir entgegengebracht wurde. Jedoch dauerte die Freude nur so lange, bis ich merkte. daß das Interesse weniger meiner Person galt als vielmehr meiner sogenannten kurzen Hose, welche etwa 30 Zentimenter länger war als die entsprechenden Kleidungsstücke der bereits anwesenden Klubmitglieder. Jemand gröhlte: „Wolfgang, was bringst du da für eine Vogelscheuche mit ?" Wieherndes Gelächter. — Arm, aber guterzogen, überhörte ich derartiges. Wolfgang zerrte mich zu irgendeinem Boy mit einem lustigbunten Schnürsenkel, der Ihm von der Schulter herabhing und in einer aufgesetzten Tasche seines Hemdes verschwand. Wolfgang sagte:
„Zugführer, der ist heute neu." Ich wunderte mich, daß ein so junger Mensch schon bei der Reichsbahn arbeiten mußte und bereits Zugführer geworden war. Indes hielt mir der Elsenbahner seine Rechte entgegen. die ich demütig ergriff, und dann machte ich einen
Diener und sagte Guten Tag. Erneutes wieherndes Gelächter von allen Seiten.
In der Folge sah man nun Pimpfe, die sich gegenseitig unter artigsten Verbeugungen die Hände schüttelten und Guten Tag wünschten, um sich anschließend vor Lachen fast den Bauch zu verrenken. Der Zugführer belehrte mich inzwischen, daß seit längerem nach dem markigen Händedruck die Rechte gen Himmel zu recken sei, niemand würde mehr einen Diener machen.
Allmählich nahm nun die Angelegenheit Gestalt an. Man pferchte mich in Reih' und Glied. Erst mußte ich den Bauch reinnehmen und dann meine Quadrat-latschen, womit meine Sonntagssandalen gemeint waren. Vor dem derart formierten Haufen standen diverse Knaben solo umher, verschiedenfarbige Fäden an der Schulter, ständig mittels Hitlergruß die Luft zerhackend und sich irgendwelche Ist-Stärken zubrüllend.
Endlich schien festzustehen, wer die größte Klappe hatte, denn alle anderen waren verstummt. Vom Neuen Markt Langfuhr marschierten wir in Richtung Flugplatz, etwa 10 Minuten. Bereits nach 6 Minuten hatte mein Hintermann es fertiggebracht, mir zwei Sandalenriemen abzutreten und nächst diversen Schrammen an den Beinen einige Tritte zu verabfolgen. Dabei blökte er ständig etwas von Gleichschritt. Zwischendurch mußten wir auch die Vertonung eines zeitgenössischen Komponisten mehrstrophig absingen, sie begann mit blauen Dragonern, die vom Sturmwind zerfetzt waren.
Der Boy mit der größten Klappe und der dicksten Schnur an der Schulter überschrieden polyphonen Gesang: „Mit dem Singen, das ist ja der reinste Mist ! Hinlegenll "Alles stapelte sich der Länge nach horizontal, was mir sehr lustig vorkam. Als ich noch ein freies Plätzchen entdeckte, legte ich mich auch lang und starrte in den Himmel. Mein Nachbar raunzte mir noch verzweifelt zu: „Du Idiot, dreh dich doch auf den Baucht" Anscheinend hatte der Knabe mit der dicken Schnur mein Zögern übel vermerkt, denn er stapfte über die Leiber hinweg direktemang auf mich zu und schrie in die Landschaft: „Hal Da liegt ja so ein Scheißwürstchen auf dem Rückeni Hat man denn schon je so etwas erlebt ? Kerl, wer Ist denn dein Fähnleinführer ?" ich lächelte ihn sanft an und wollte ihn erinnern, daß er ja nur das Hinlegen an sich. nicht aber die Art und Welse angeordnet hatte, aber er schrie schon weiter: "Die Flasche weiß ja nicht einmal, wie sein Fähnleinführer heißtl Wer ist denn dein Zugführer?" Der Zugführer rettete die Situation, indem er aus der Bauchlage heraus meldete: „Stammführer, der Ist heute neu!" Der Stammführer murmelte irgend etwas in die Gegend, in die später einmal sein Bart hin sollte, es klang wie Hammelbeine-Langziehen oder so ähnlich.
Schließlich saßen wir im Halbkreis und lernten den Text des Liedes eines noch zeitgenösserischen Komponisten von der Fahne, unter der wir nicht nur leheben, sondern auch schweheben mit sauausendem Schwung. — Noch heute, wenn ich EDV-Listen aufbereite, summe ich die ergreifende Melodie vor mich hin, wie sie sich mir damals eingeprägt hat.
Wie bereits gesagt, war es ein kühler Herbstnachmittag, und Stillsitzen macht klamme Glieder. Also anberaumte der Stammführer ein Kriegsspiel. Man knotete auch mir einen. irdenen Bindfaden derart um den Oberarm, daß die Blutzirkulation spontan ihren Betrieb ein-stellte. und überließ mich des weiteren meinem Schicksal, welches sich in vergeblichen Versuchen erschöpfte, die blöde Schnur vom Arm zu kriegen. Wie ich dann später erfuhr, gab es zwei Parteien mit jeweils einer bestimmten Kordelfarbe am Arm. Diese Kordeln den Gegnern abzureißen war das Ziel, und die Partei, die dann die meisten Kordeln vorweisen konnte, war Sieger.
Jedoch waren mir diese Spielregeln noch fremd, und so stellte ich mich etwas abseits, um zunächst einmal zuzuschauen. Aber dazu war es schon zu spät. Mir wurde das einzige zerstört, das mir in meinem bisherigen Leben eingefallen ist, nämlich mein Brustkasten: Ich fühlte mich plötzlich ergriffen und zu Boden geschleudert, und schon saß einer auf mir drauf, drückte ein nicht gerade sauberes Knie in mein Gesicht und versuchte, die Kordel von meinem Oberarm abzureißen, was abscheulich weh tat.
Endlich gab der Klügere nach. Trium-phierend hob der Widersacher den Bindfaden in die Luft. aber da wummte es erneut, weil gleich 5 oder 6 Knaben von meiner Partei nun ihrerseits bemüht waren, meinem Widersacher den Arm abzuschrauben. Das geschah nicht ganz ohne Lärm, jedoch unter Anwendung raffinierter Reit- und Trampeleffekte, aber meine Anwesenheit ganz zu unterst störte gottlob niemand.
Verbeult, verdreckt und zerfetzt wie die blauen Dragoner wurde der schöne Tag mit einem zackigen Zickezacke heilheilheil beendet Auf dem Heimweg riß ich mir dann noch das eine lädierte Hosenbein kürzer in der Hoffnung. daß nun das zweite ihm gleichgemacht werden würde. Was sich leider als Fehlschluß erwies: Das kürzere Bein wurde mit einem andersfarbigen Stoff wieder verlängert.
Da ich mich den feinen Umgangsformen des Vereins nicht gewachsen fühlte, verzichtete ich auf eine allzu feste Mitgliedschaft. Mein Abgang wurde als erstjähriges Storno verbucht, und ob mein Klassenkamerad Wolfgang mit Rückprovision betastet wurde, ist mir völlig egal. Sieg Heill!
Arge Danzig, Rundschreiben 160, Kniep / Mein erstes Erlebnis mit der Bewegung.
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Added: 01/10/2015
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