>> Der „Korridor“ zwischen Polen und dem Deutschen Reich
[Martin Jenrich, Tel. 030-9914166, E-Mail martin.jenrich@web.de]
Dieses Ziel widersprach aber dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Wilson seinen 14 Punkten zugrunde gelegt hatte, denn die Bevölkerung der Ostseeküste war ethnisch gemischt. Die damaligen deutschen Historiker meinten, der amerikanische Präsident sei geographisch ahnungslos gewesen und hätte sich von seinen Verhandlungspartnern, namentlich von dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und dem polnischen Delegationsleiter Roman Dmowski, übertölpeln lassen. Heute weiß man, dass dies nicht der Fall war. Wilsons wichtigstes Ziel war die Gründung eines Völkerbundes, für den er zahlreiche Kompromisse einging mit der Hoffnung, die entstehenden Widersprüche würden sich im Völkerbund gewaltfrei lösen lassen.
- Der Korridor in der Zeit der Weimarer Republik;
Am 11. Juli 1920 wurden die zum Korridor gehörenden Gebiete an Polen abgetreten und bildeten eine eigene Wojewodschaft. Dazu gehörten neben den Städten Graudenz und Thorn insgesamt vierzehn Landkreise. Zum Abtretungsgebiet zählte auch die Ostseeküste vom Flüßchen Piasnitz über die Halbinsel Hela und die Putziger Wiek bis Zoppot (letzteres gehörte bereits zur Freien Stadt Danzig). Der Erholungs- und Fischerort Gdingen (poln. Gdynia) mit etwa 1.000 Einwohnern wurde von Polen innerhalb weniger Jahre zu einer industriellen Hafenstadt mit mehr als 10.000 Einwohnern ausgebaut, zu Militärzwecken benutzt und durch eine Eisenbahnstrecke mit dem Industrierevier im ebenfalls vom Deutschen Reich abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (poln. Katowice) verbunden. Für den Export oberschlesischer Kohle gebaut, wurde diese Bahnstrecke auch ‚Kohlenmagistrale’ genannt.
Der polnische Korridor wurde in Deutschland generell als äußerst ungerecht und Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht empfunden. Die Revision der Grenzziehung, die Ostpreußen vom Reich abtrennte, war ein vorrangiges Ziel jeder Regierung der Weimarer Republik. Aus diesem Grund ging der nach Westen stets verständigungsbereite Außenminister Gustav Stresemann auch nie auf die verschiedenen polnischen Vorschläge ein, analog zu den Verträgen von Locarno ein „Ost-Locarno“ abzuschließen, mit dem die Ostgrenze des Reiches für unverletzlich erklärt und völkerrechtlich garantiert werden könnte.
Innenpolitisch war der Korridor regelmäßig Gegenstand rechtspopulistischer Propaganda. Im August 1930 verursachte z. B. der ehemalige Reichsminister für die besetzten Gebiete im ersten Kabinett Brüning, Gottfried Treviranus (Konservative Volkspartei), eine internationale Krise, als er während einer Wahlkampfrede prophezeite, Polens Zukunft sei ohne Änderung der Grenzen nicht sicher, was im Nachbarland als Kriegsdrohung verstanden wurde.
- Der Korridor in der Zeit des Nationalsozialismus;
Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entspannte sich die Situation scheinbar mit dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934. Insgeheim wurde jedoch die Möglichkeit, den Korridor durch Krieg zurückzugewinnen, durch die deutsche Reichsregierung weiter verfolgt. Erst nach dem Münchener Abkommen unternahm Hitler Ende 1938 einen neuen Anlauf zur Lösung der Frage des Korridors und Danzigs im deutschen Sinne. Unter anderem forderte Deutschland nun die Rückgängigmachung der Grenzziehung des Versailler Vertrages und – aufgrund der Übergriffe gegen die deutsche Minderheit in diesem Gebiet – eine Regelung der Rechte der dortigen Minderheiten. Er forderte eine Volksabstimmung über die staatliche Zuge-hörigkeit der Gebiete und machte den Vorschlag, dem in dieser Volksabstimmung unterlegenen Staat als Ausgleich eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zu gewähren. Seit dem Sommer 1939 eskalierten die Spannungen zwischen beiden Ländern. Der Streit um den Korridor war die Kulisse für den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Der darauf folgende Angriff auf die Westerplatte bei Danzig am 1. September 1939 mit den dann folgenden Kriegserklärungen Großbritanniens (aufgrund der britischen Sicherheitsgarantie an Polen vom 31. März 1939) und Frankreichs an Deutschland am 3. September 1939 markieren den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
- Der Zweite Weltkrieg und die Folgen;
Mit dem Sieg im Polenfeldzug wurde das Gebiet des Korridors im Herbst 1939 wieder an Deutsch-land angegliedert, um nach dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 zurück an Polen zu fallen, nunmehr unter anderem mitsamt dem südlichen Ostpreußen und Hinterpommern und unter Vertreibung fast der gesamten in diesen Gebieten ansässigen deutschen Bevölkerung. Damit hatte sich die – nunmehr geschichtliche – Problematik des Korridors zu einer den gesamten Ostteil des ehemaligen Reichsgebiets umfassenden Problematik ausgeweitet.
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Arge Danzig, Rundschreiben 221, Seite 1831.
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Added: 17/10/2008
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