Erinnerungen an Danzig-Neufahrwasser
Gerhard Simon
Ich möchte vorausschicken, daß ich zur damaligen Zeit das 6. Lebensjahr noch nicht ganz vollendet hatte und nicht über Danzig-Neufahrwasser (Nfw.) hinauskam. Es sind also subjektive Erlebnisse eines Kindes. Meine Erinnerungen an Neufahrwasser beginnen etwa Mitte des Jahres 1944. Ich lebte damals mit meiner Mutter in der Sasperstraße 31b. Meine Eltern hatten dort ein großes Kolonialwarengeschäft. Vater war an der Front. Was war ich damals auf meinen Vater stolz, wenn er vom Fronturlaub nach Hause kam und ich mit ihm durch Danzig ging. Auch im Urlaub war es Pflicht, in der Öffentlichkeit Uniform zu tragen. Er brachte aus Frankreich Maronen mit, und meine Mutter servierte sie uns. Mir schmeckten sie überhaupt nicht.
Im Herbst 1944 wurde ich eingeschult. Ich bekam eine Schultüte und ging damit zum Fotografen in die Fischerstraße. Dort wurde ich fotografiert, und dann ging’s mit der schönen Tüte wieder nach Hause. Über deren Inhalt kann ich heute nichts mehr sagen. Aber das Foto besitze ich immer noch. Dann begann der Unterricht. Die Knabenschule in Nfw. war bereits zum Lazarett umgewandelt. Deshalb sollte ich in der Olivaer Straße privat von einer Lehrerin unterrichtet werden. In ihrem Wohnzimmer saßen Kinder aller Altersstufen beisammen. Allerdings wollte ich nicht ohne meine Mutter dableiben. Ich schrie und sträubte mich gewaltig, doch es nutzte nichts. Doch bald ging ich gerne zur Schule, bis auf einen Tag, es muß schon im Jahre 1945 gewesen sein. Ich verlies also unsere Wohnung, ging aber nur bis zum Anfang der Olivaer Straße. Dann lief ich wieder nach Hause und sagte meiner Mutter, ein Polizist hätte mir gesagt, daß man umkehren solle, weil über kurz oder lang ein Luftangriff erfolgen würde. Als dann nach einiger Zeit kein Heulen der Sirene einsetzte, mußte ich meiner Mutter gestehen, daß ich mir das nur ausgedacht hatte. Daraufhin bekam ich von ihr eine gehörige Tracht Prügel mit dem Teppichklopfer auf den Allerwertesten.
Bis gegen Ende 1944 lebten wir Danziger fast wie im Frieden. Man merkte vom Krieg nicht viel. Nur durch die Verladung von Truppen und Nachschubgütern über den Hafen von Nfw. war der Krieg zu spüren. Auch der Rücktransport der Verwundeten lief oft über Nfw. Ein Näherrücken des Krieges machte sich nur sehr langsam bemerkbar. Zuerst „verreisten“ einige Leute aus der Nachbarschaft. Dann trafen die ersten Flüchtlinge mit der Eisenbahn ein, und allmählich zogen lange Kolonnen von Pferdefuhrwerken in Richtung Hafen. Die Stadt war überfüllt. Da nicht alle gleich über den Hafen abtransportiert werden konnten, wurden die Menschen in den leerstehenden Wohnungen untergebracht. Nach und nach trafen immer mehr Soldaten mit ihren Fahrzeugen in Nfw ein und versperrten die Straßen. Gegenüber meinem Elternhause parkten eines Tages Militärfahrzeuge. Ich bat die Soldaten, einmal mitgenommen zu werden, und sie erfüllten mir diesen Wunsch.
Da meine Mutter mit zwei Verkäuferinnen und einem Kindermädchen ein Kolonialgeschäft führte, weiß ich, daß die Versorgungslage nicht so schlecht war. Unser Geschäft war mit den nötigsten Lebensmitteln überreich gefüllt. Und was nur noch schwer zu bekommen war, wurde von der Verwandtschaft auf dem Lande geliefert.
So allmählich nahmen die nächtlichen Aufenthalte in den Kellern zu. Immer öfters erschienen feindliche Flugzeuge über Danzig. Wir Kinder konnten die einzelnen Flugzeuge an den Kondensstreifen unterscheiden. In einer Nacht erscholl plötzlich großer Kanonendonner, so daß die Fensterscheiben nur so klirrten. Am kommenden Tag wurde dann erzählt, daß der schwere Kreuzer „Prinz Eugen“ von der Danziger Bucht aus Stellungen der russischen Soldaten beschossen hatte. Aber auch das nutzte nichts; der Geschützdonner der russischen Kanonen kam langsam näher. Die Anzahl der Soldaten mehrte sich, und auch wir erhielten eine Einquartierung. In unserem Hause war ein großes Tor. In dieses Tor wurde eine Vierlingsflak geschoben mit der entsprechenden Munition. Die Flak wurde aber nicht zur Fliegerabwehr eingesetzt, sondern erst aus dem Torbogen gezogen, wenn die Russen über einen großen Exerzier-Platz angriffen. Von einem „Kettenhund“ (Militärpolizist) wurde mir gesagt, daß ich auch schon ein großer Junge sei und mithelfen müsse, damit die Eltern mit ihren kleinen Kindern aus Danzig evakuiert werden können. So half ich den Soldaten, aus dem Torbogen die Munition an die Flak zu bringen, aber meine Mutter hatte große Angst um mich.
Für den Abtransport mit dem KdF-Schiff „Wilhelm Gustloff“ hatte meine Mutter eine Genehmigung besorgen können, doch letztendlich wollte sie doch nicht abreisen. So blieben wir bis zur letzten Konsequenz in Danzig. Kurz vor der Einnahme von Nfw. wurde dann auch mein Elternhaus bombardiert. Einige Soldaten halfen uns beim Verlassen des brennenden Hauses. Sie stülpten uns nasse Säcke über den Kopf und den Rücken, und wir liefen dann über die Trümmer der Straße in einen überdachten Laufgrafen, den die Soldaten gebaut hatten. An den Wänden des Grabens befanden sich Sitzmöglichkeiten. Auf dem Boden lagen Bretter, da Wasser im Graben stand. Nach Ablauf der Kämpfe verließen wir diesen Laufgraben und gingen zu einem noch nicht zerstörten Wohnhaus und dort in den Keller. Hierher waren bereits viele Frauen und Kinder geflüchtet. Alte Männer waren kaum zu sehen, sie waren zum Volkssturm eingezogen worden.
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Arge Danzig, Rundschreiben 210, Seite 1485.
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Added: 08/02/2008
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