>> Erinnerungen an Danzig-Neufahrwasser
Gerhard Simon
Dann kamen die Russen. Als sie den Keller betraten, schossen sie mit ihren Gewehren in den beheizten Kanonenofen, um Angst zu verbreiten. Dann folgten die Kommandos „Frau komm!“ und „Uri – Uri“. Die jeweils angesprochenen Frauen klammerten sich an ihren Nachbarinnen fest und wollten nicht mitgehen. Nur mit Gewalt konnten die Russen die Frauen zwingen, mit ihnen mitzugehen. Manche Frauen schnitten sich die Pulsadern an beiden Armen auf und verbluteten. Viele junge Mädchen und Frauen machten sich so alt wie ihre Großmütter. Nach den Vergewaltigungen haben sich etliche Frauen getötet. In den Kellern wurde gesungen und gebetet, um die Angst zu verdrängen. Als dann die größte Unruhe vorbei war, ging meine Mutter mit mir zu ihrer Freundin (meiner Taufpatin), und wir quartierten uns dort ein. Damit waren in dieser Wohnung 3 Frauen und ich untergebracht. Es war sehr eng dort! Als meine Mutter eines Tages in der Frühe zur Kommandantur ging, kam sie nicht zurück. Ich weinte bitterlich und konnte nicht beruhigt werden. Wie ich später erfuhr, hatten die Russen die Kartei der Mitglieder der NSdAP gefunden. Da sie ebenfalls in der Partei war, wurde sie zu einem Sammelplatz gebracht, um mit anderen Personen in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit gebracht zu werden. Diese Leute wurden gezwungen, bis nach Graudenz zu marschieren. Unterwegs bekam sie dann Hungertyphus. Aus Angst, daß noch mehr Personen angesteckt werden konnten, wurde sie am Wegesrand zurückgelassen. Sie konnte sich aber nach Nfw. zurückschleppen. Dort wurde sie sofort in ein Lazarett eingeliefert, das in einer Knabenschule eingerichtet worden war. Da aber an Deutsche keine Medikamente ausgegeben wurden oder sie nicht vorhanden waren, verstarb meine Mutter Mitte Mai. Sie wurde auf dem evangelischen Friedhof beerdigt (Als ich 1986 nach Danzig kam, erfuhr ich von Einheimischen, daß die Gräber von Polen geöffnet wurden und diese die Leichen nach Langfuhr geschafft und dort in einem Massengrab verscharrt hätten.).
Ich blieb dann bei meiner Taufpatin. Spielen durfte ich nur auf einem Hinterhof, da große Angst vor der Rechtlosigkeit auf den Straßen herrschte. Ich bemerkte eines Tages, wie polnische Jugendliche deutsche Kinder verprügelten, nur, weil sie nicht polnisch sprachen. Da keine Nahrungsmittel zu kaufen waren, mußten die Leute hamstern. Das heißt, viele gingen mit einem Rucksack aufs Land und holten sich aus Kartoffelmieten Kartoffeln. In Nfw. war ein großer Zuckerspeicher verbrannt. Viele Menschen gingen dorthin, um den durch das Feuer flüssig gewordenen und dann wieder erstarrten Zucker von der Straße abzubrechen. Auch in den Kellern von geflüchteten Personen wurde nach Eßbarem gesucht. Die deutsche Bevölkerung durfte die Wohnungstüren nicht abschließen. So war es den Polen jederzeit möglich, sich für sie Brauchbares mitzunehmen. Eine Verweigerung war zwecklos, denn dann wurden die Menschen geschlagen. Auch konnte es passieren, daß Polen die deutsche Bevölkerung aus deren Wohnungen verwies und dort selber einzogen. Wo man dann blieb, war ihnen einerlei. Jederzeit konnte es passieren, daß Deutsche von der Straße weg von den Polen für irgendwelche Arbeiten herangezogen wurden. Dann kehrten die Leute manchmal erst nach Tagen wieder zurück, und die Sorge der Angehörigen war groß.
Im Winter 1945/46 wurde ich dann mit vielen anderen Personen in einen Personenzug verfrachtet. Die einzelnen Abteile wurden von außen zugebunden. Es sollte gen Westen gehen. Gefragt, ob er wollte, wurde niemand. Der Zug hielt des Öfteren auf freier Strecke; die Lokomotive wurde abgekoppelt und für andere Transporte benutzt. Dann stand man auf freier Strecke, und das im Winter bei großer Kälte und ohne Heizung. Essen wurde nicht ausgeteilt, und die mitgebrachte Verpflegung war schnell aufgebraucht. Um etwas zum Trinken zu bekommen, half man Kindern, durch die geöffneten Fenster nach draußen auf die Trittbretter zu gelangen, damit sie mit Kochgeschirren oder sonstigen Gefäßen Schnee in die Abteile reichen konnten. Manchmal schoß das polnische Begleitkommando auf diese Kinder.
Nach einer mehrtägigen Fahrt, die betreffs der Entfernung eigentlich nur wenige Stunden gedauert hätte, waren wir in der damals sowjetisch besetzten Zone in einer leerstehenden Kaserne untergebracht. Zuerst allerdings mußten wir durch die Entlausung. Eine nicht gern gesehene, aber notwendige Prozedur. Bei der abendlichen Essenausgabe gab es eine sehr heiße, aber dünne, Wassersuppe. Der Magen knurrte nach kurzer Zeit schon wieder vor Hunger. In den nächsten Tagen wurden wir auf die umliegenden Orte verteilt. Ich kam mit einer Familie auf die Insel Rügen. Da meine Mutter in Danzig verstorben und mein Vater in französischer Gefangenschaft war, kam ich in eine fremde Familie. Diese Familie erhielt dann eine kleine Neubauernstelle in Mecklenburg-Vorpommern zugewiesen. Als mein Vater zu Weihnachten 1946 aus der Gefangenschaft entlassen wurde, versuchte er über das Rote Kreuz, seine Familie wiederzufinden. Dies gelang im Frühjahr 1947. Ich konnte dann über die damals noch grüne Grenze die SBZ verlassen und traf im Sommer 1947 in Wilhelmshaven ein, wo mein Vater bei seiner Schwester einen Unterschlupf gefunden hatte. Ihm berichtete ich, wie meine Mutter gestorben war und übergab ihm die Todesurkunde, die allerdings in polnischer Sprache ausgestellt war.
Ja, das sind einige meiner Kindheitserinnerungen an die damalige Zeit. Sie sind ein wenig länger geworden als anfangs gedacht...
Arge Danzig, Rundschreiben 210, Seite 1486.
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Added: 08/02/2008
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